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Die Bundesregierung favorisiert personenzentriertes Wohnen

Hierbei scheint nur der Weg das Ziel zu sein und der ist unendlich lang.

 

Am 30.11.2020 nimmt die Bundesregierung in der Drucksache 19/24784 zu einer Anfrage der Fraktion der FDP (Drucksache 19/24257) zur Konversion von Komplexeinrichtungen der Eingliederungshilfe Stellung. Sie führt aus: Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) setzt der Gesetzgeber einen Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe um, der zu einer personenzentrierten Leistungserbringung und einer größeren Wahlfreiheit für die Betroffenen führen soll. Soweit, so gut. Und wer glaubt, dass kognitiv mehrfach Beeinträchtigte hierbei zu einer tagfähigen Entscheidung kommen können?

 

Weiter heißt es in der Verlautbarung: Die Umsetzung dieses Rechtsrahmens in der Praxis setzt voraus, dass Regelungen über entsprechende Fachleistungen der Eingliederungshilfe Eingang in die auf Länderebene abzuschließenden Rahmenverträge nach § 131 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) finden, welche die Grundlage für die schriftlichen Vereinbarungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern gemäß § 125 SGB IX bilden. Für die Praxis stellt sich die Frage: Wie könnte real die Mitwirkung kognitiv mehrfach Beeinträchtigter bzw. der sie rechtlich Betreuenden ablaufen?

 

Es wird nicht mehr von der stationären Einrichtung gesprochen, sondern von einer besonderen Wohnform (§ 42a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 SGB XII). Ich zitiere weiter: „Um das Wohnen von Menschen mit Behinderungen in der eigenen Wohnung tatsächlich stärken zu können, bedarf es jedoch einer Reihe von Voraussetzungen. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang sind bauliche Voraussetzungen – vor allem mit Blick auf die Barrierefreiheit.“  Und wo bleibt bei diesen Vereinbarungen die Mitwirkung der kognitiv mehrfach Beeinträchtigten?

 

Weiter wird erläutert: „Nur wenn Letztere (Anm. bauliche Veränderungen) gegeben ist, lässt sich auch ein gemeinsames Wohnen von Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen in der Praxis realisieren – im Gegensatz zu „Sonderwohnumgebungen“ für Menschen mit Behinderungen.“ Die kognitive Barriere in den Köpfen der Beeinträchtigten ist scheinbar nicht gemeint! Sie werden in den „Sonderwohnumgebungen“ – sprich heutigen stationären Einrichtungen/Wohnheimen – weiterleben (müssen & wollen).

 

Die Bedingungen der oben beschriebenen Voraussetzungen scheinen nur in der Theorie vorzukommen. Da im BTHG bereits Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung grundsätzlich nicht berücksichtigt waren, kann man jetzt auch nicht erwarten, dass sie das jetzt bei der Umsetzung des "Paradigmenwechsels" sein können. Wegen fehlender oder viel zu schwacher Lobby - insbesondere auch bei den sogenannten Fachverbänden - wird das Problem weiter bestehen!

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Dann ist da noch der Aspekt der Kosten für die Umsetzung des Ganzen!

 

Hier wäre wichtig zu wissen, wie viele Menschen in „Sonderwohnumgebungen“ leben (müssen oder wollen). Aber genau hierzu liegen der Bundesregierung keine konkreten Zahlen als Grundlage für gute Entscheidungen vor. Ein, wie ich meine, entscheidender Fehler, um mit Klarheit an die Umsetzung des BTHG’s in Ländern und Kommunen zu gehen. Beeinträchtigte dieser Kategorie hat man offensichtlich nicht mit bedacht.

 

Es ist also unklar, wie viele kognitiv und mehrfach Beeinträchtigte in diesen „Sonderwohnumgebungen“ verbleiben (müssen oder wollen). Und dass, obwohl von Beratenden der Bundesregierung die Abschaffung von „Sonderwelten“ – sprich WfbM und Komplexeirichtungen – eindringlich in den Vordergrund gestellt wurden und werden.

 

Der Gesetzgeber missachtet hier offensichtlich das Gleichstellungsgesetz. Gehörlose bekommen ihren Gebärdendolmetscher, Rollstuhlfahrer Rampen und Fahrstühle, Blinde eine Vorlesefunktion für Bücher und Internet sowie Ansagen in Fahrstühlen usw. Das ist alles für diese Beeinträchtigen notwendig und sehr sinnvoll. Nur die Vielzahl weiterer Formen der Beeinträchtigung stehen nicht im Rampenlicht, hier fehlen mächtige Lobby-Vertretungen. Für die Beeinträchtigten in „Sonderwohnumgebungen“ alias stationären Unterbringungen alias Wohnheimen werden konkrete Lösungen nicht aufgezeigt, ihr Zuhause hat nur einen neuen Namen bekommen. Unkenntnis über konkrete Zahlen kann und darf nicht zum Wegschauen verleiten!

 

Heutige Träger der Komplexeirichtungen - also der Sonderwelten, WfbM & Wohnheim - sprechen sich seit Jahren gegen die vollständige Auflösung dieser/ihrer Einrichtungen aus. Nicht aus Selbstzweck möglicher Bedeutungslosigkeit, sondern aus Einsicht und Durchblick. Die Mitarbeitenden in den Komplexeinrichtungen, die die tägliche Last tragen, müsste man nur einmal fragen.

 

Durch die Vielzahl von Ausprägungen kognitiver Beeinträchtigungen und damit einhergehenden familiären Situationen, wird es immer Beeinträchtigte geben, die auch als Erwachsene einer intensiven Unterstützung für ein menschenwürdiges Leben bedürfen.

 

Konstanz, den 18.1.2021

Karl Eichler, Mitglied des BABdW

 

p.s.

Im Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung vom 29.06.2016 steht auf der Seite 14:

 

Der Wissenschaftliche Beirat zum Teilhabebericht der Bundesregierung hat Forschungsanstrengungen dazu angemahnt: „Zugleich muss auch dieser Bericht sich dem Umstand beugen, dass besonders verletzliche Gruppen keine Berücksichtigung in den datenbasierten Aussagen finden, wie Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen, wie Personen mit umfassenden Beeinträchtigungen der Kommunikation und Personen, die durch ihren Wohnort von der Beteiligung an Haushaltserhebungen ausgeschlossen sind. Dies ist ein unhaltbarer und (in einem Teilhabebericht) paradoxer Zustand, der dringend aufgelöst werden muss. Hier muss sofort entsprechende Forschung aufgenommen werden.“

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